Zahlen sind in unseren Alltag auch deswegen so dominant, weil Vieles in unserem Leben so gut zählbar ist. Zählen halten wir für kinderleicht. Diese Haltung spiegelt sich auch in den Mathematikbüchern wieder, die ja selten ein Thema daraus machen, wie die Mengen entstanden sind, mit denen gerechnet wird. Sie sind einfach schon da. Doch schnell kann der Boden, auf dem wir unbekümmert zählen, rutschig werden. Werfen wir also einen Blick auf die eher selten thematisierten Fallstricke des Zählens.
Inwiefern kann denn Zählen problematisch sein, wenn schon Drei- oder Vierjährige unbekümmert mit dem Zeigefinger aufzählend „Eins, zwei, drei, …“ aufsagen. Vielleicht gab es eine Situation, in der Sie anders zählen würden das Kind. Eine Feststellung, die die Kognitionsforscherinnen Elizabeth E. Shipley und Barbara Shepperson wissenschaftlich untersucht haben. In ihrer Studie legten sie Kindern das folgende Bild vor:
Tatsächlich zählen Kinder im Alter von drei bis vier Jahren hier häufiger als Erwachsene sechs „Gabeln“. Dieses Verhalten könnte man mit der noch wenig ausgebildeten Fähigkeit der Objekt-Konsistenzen der Kinder erklären. Genauso gut könnte man aber auch davon ausgehen, dass es sich hier um Gabeln handelt, die sich zusammenstecken lassen. Dann würden die Kinder mit ihrer Zählung „richtig“ liegen. Es gibt also kein richtig oder falsch, sondern lediglich Konventionen, die wir zum Zählen anwenden und ein Kontext, in welchem dies geschieht. Welche Konvention sinnvoll ist, richtet sich nach der Intention, die der Zählende beim Akt des Zählens zugrunde liegt. Wenn wir zählen, legen wir all das unterbewusst und damit unreflektiert fest.
Künstliche Welten sind für Zählen wie gemacht
Wenn wir zählen für unproblematisch halten, liegt das vielleicht auch daran, dass die Welten, in denen wir uns bewegen, wie fürs Zählen gemacht sind. Sie sind und werden immer künstlicher und normierter. Industriell gefertigte Produkte, identisch hergestellt problemlos zählbar. Ganz zu schweigen von den virtuellen Welten, die schon in ihrer Basis immer nur auf Zahlen aufbauen. Geld ist einfach zu zählen, Papierseiten DIN A4, der Score im Computerspiel, genauso wie Schrauben oder Legosteine. Im Grunde sind auch die Lebensmittel, die wir kaufen, wenig natürlich. Die Äpfel und Eier im Supermarkt sind so sorgfältig auf gleiche Größe und Beschaffenheit sortiert worden, dass tatsächlich eins dem anderen gleicht. Äpfel an einem Baum werfen da schon Fragen auf: Zählen die Großen genauso wie die Kleinen, die mit Wurm wie die Ohne? Oder Tiere in einer Herde: Zählen wir Schafböcke genauso wie Lämmer? Kranke wie Gesunde? Trächtige Tiere für zwei?
Das Zählen verlangt immer nach einer Definition, die natürliche Phänomene nur unzureichend fassen kann. Neben der Unregelmäßigkeit, mit der sich natürliche Phänomene der einfachen Zählung widersetzen, entstehen Problematiken, wenn Zählweisen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinandertreffen. Unternehmen, die Produktionsstätten über die Welt verteilt haben, kennen das Problem: In fast allen Ländern gibt es gesetzliche Auflagen, die besagen, Statistiken über Arbeitsunfälle zu führen. Nur, was als Arbeitsunfall zu zählen ist, kann von Land zu Land sehr unterschiedlich geregelt sein. So zählen in Deutschland Unfälle auf dem Weg als Arbeitsunfall, in anderen Ländern hingegen nicht. Erfolgt nun die Zählung auf Basis der länderspezifischen Definitionen, wird überall anders gezählt. Alternativ könnte man zwei Zählweisen anwenden, die lokale und eine vereinheitlichte internationale. Dies würde jedoch einen doppelten Aufwand zur Definition des Zählens bedeuten und im Ergebnis zwei Zahlen für denselben Sachverhalt generieren. Das ist kaum praktikabel. Was macht der Praktiker? Er lässt jeweils nach der regionalen Spezifikation zählen und das hindert ihn nicht daran, die Zahlen in gleicher Art und Weise zu verwenden. Hin und wieder kann es vorkommen, dass Chefs fragen, warum Zahlen so sehr abweichen, obwohl die Ausgangslage ähnlich ist. Dann können Abweichungen in den Zähldefinitionen die Ursache sein.
Aber auch wenn es ein weltweit gültiges Klassifizierungssystem existiert, sind noch längst nicht alle Probleme aus der Welt geschafft. Ein Beispiel hierzu sind Krankheiten. Hier existiert mit dem „ICD-10“ ein weltweites Klassifizierungssystem der Weltgesundheitsorganisation. Nun, Blinddarmentzündungen lassen sich damit recht gut durch ein Schema beschreiben und auf dieser Basis in der Praxis erkennen und zählen.
Bei psychischen Krankheiten ist dies kaum noch zweifelsfrei machbar. Sie liefern auch ein Beispiel wie in der vermeintlich objektiven Naturwissenschaft soziale Normen die wissenschaftlichen Normen beeinflussen. Während die Homosexuellenverbände 1980 dafür kämpften, dass Homosexualität von der Liste gestrichen wird, um Diskriminierungen zu vermeiden, kämpften sie gleichermaßen dafür, dass Transsexualität auf der Liste bleibt. Andernfalls würden die Kosten für die Operationen nicht mehr übernommen. Darüber was und wie gezählt werden kann, ist ein beinahe unendliches Diskussionsthema auf Kongressen und Tagungen. Nicht nur in der Medizin, auch in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, etwa in der Wirtschaft und in der Politik.
Ein reines Experten-Problem?
Aber ist die Problematik des Zählens dann nicht ein reines Experten-Problem, das Normalbürger gar nicht berührt? Leider nein, denn jeden Tag werden uns Statistiken präsentiert, mit Zahlen, die eine hohe Genauigkeit suggerieren. Aufgrund Unschärfen in der Zählweise, ist diese Präzision oft gar nicht gerechtfertigt. Die Zahlen scheinen uns also genauer als sie sind. Aber es gibt Lösungen hierzu und einen eigenen Artikel: Vermeintliche Sicherheit, wenn Zahlen Präzision vortäuschen
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