Die menschliche Wahrnehmung ist geprägt von zahlreichen Fallstricken, welche zwar auf der einen Seite für ein schnelles Urteilsvermögen sorgen, auf der anderen Seite aber auch zu eklatanten Verzerrungen der Realität und Fehleinschätzungen führen. Besonders wenn es um die Beurteilung mengenmäßiger Sachverhalte geht, wird unsere stark eingeschränkte Rationalität deutlich. Die Anker- bzw. Anpassungsheuristik hilft uns dabei, beispielsweise eine Einschätzung über unser prospektives Gehalt in einer Gehaltsverhandlung abzugeben, führt uns dabei aber oft in die Irre.
Wie wichtig unsere zahlenbasierte Urteilsbasis ist, wird bei Betrachtung von alltäglichen Situationen schnell deutlich: Stellen Sie sich ein Bewerbungsgespräch vor, in das sie ausnahmsweise nur mit rudimentären Kenntnissen über mögliche Gehälter für eine derartige Position reingehen. An ihrem Ehrgeiz und ihrem Verhandlungswillen kann die Gehaltsverhandlung nicht scheitern, da sie einerseits den Job unbedingt haben wollen und gleichzeitig auch bereit sind, ihr prospektives Gehalt aggressiv zu verhandeln. Trotzdem kann hier ein einfacher Umstand ihren gesamten Verhandlungsspielraum zunichte machen: Der Arbeitgeber eröffnet die Gehaltsverhandlung von sich aus und fragt Sie nach ihren Gehaltsvorstellungen sowie ihrer Einschätzung hinsichtlich eines angemessenen Gehalts dieser Position. Dabei verweist er gleichzeitig auf das Standardgehalt von 40.000 Euro für Arbeitnehmer in vergleichbaren Positionen. Da sie selbst nur eine ungefähre Vorstellung davor haben, welche Gehaltshöhe für eine derartige Position angemessen wäre, verwenden sie dankbar den Verweis des Arbeitgebers und adjustieren ihre eigene Gehaltsvorstellung ausgehend von diesem Wert.
Die Anker- bzw. Anpassungsheuristik
Was in dieser Situation passiert ist, lässt sich unter den Auswirkungen der sogenannten Anker- bzw. Anpassungsheuristik zusammenfassen. Dieser kommt vor, wenn Menschen dazu angehalten werden, eine bestimmte Quantität abzuschätzen und dabei mit einem vergleichsweise willkürlichen Wert als Ausgangslage konfrontiert werden. Nach diesem von Daniel Kahneman und Amos Tversky (1974) benannten Effekt bildet dieser initial gegebene Wert den Startpunkt unserer Schätzung und damit auch unserer kalkulierten Fehleinschätzung. Das bedeutet, dass andere Startpunkte bzw. initial vorgegebene Zahlenwerte auch andere Schätzungen hervorbringen. Hätte der Arbeitgeber in unserem oberen Beispiel also etwa einen Vergleichswert von 60.000 Euro genannt, würden wir schließlich diesen Startpunkt nutzen, um unsere Gehaltsvorstellung oberhalb dieser Zahl anzusiedeln.
Auch wenn uns die Anwendung dieser Heuristik in belanglosen Situationen sehr viele kognitive Ressourcen einspart, können wir oftmals jedoch nicht vermeiden, diese auch in sehr kritischen Situationen unseres Arbeitsalltags zu verwenden. Stellen Sie sich etwa vor, dass Sie in ihrer beruflichen Position die Unternehmensumsätze der nächsten Jahre schätzen sollen, auf deren Basis die Kostenplanung sowie verfügbare Mittel für zukünftige Investitionen erfolgen. Natürlich orientieren Sie sich dazu zunächst an den Umsätzen der vergangenen Jahre, lassen dabei aber möglicherweise wichtige qualitative Faktoren wie das Marktumfeld außer Acht. Ihre Reduktion auf wenige quantitative Faktoren für die zukünftige Schätzung stellt dabei einen klassischen Ankereffekt dar, kostet das Unternehmen möglicherweise Millionen – und im schlimmsten Fall ihren Job. So durchzieht der Ankereffekt wirtschaftliche Entscheidungen, rechtliche Verurteilungen im Gerichtssaal sowie nicht zuletzt unsere Schätzung für die Lottozahlen der nächsten Woche.
Besonders gefährlich: Auch irrelevante Anker werden heuristisch verwendet!
Besonders gefährlich wird der Ankereffekt, wenn als Anker irrelevante Informationen für eine Schätzung heuristisch verwendet werden: Kahneman und Tversky wiesen dazu Probanden eines Experiments an, die Anzahl der afrikanischen Staaten in der UNO zu schätzen. Im Vorfeld ihrer Schätzung generierten die Probanden dazu eine zufällige Zahl anhand eines Glücksrads, welche für die eigentliche Schätzung vollkommen irrelevant war. Aus den Ergebnissen dieser Untersuchung war zu erkennen, dass die Schätzungen der Probanden sehr stark von dem zuvor zufällig generierten irrelevanten Anker der Glücksradzahl abhingen.
Eine Erklärung dafür, warum der Ankereffekt so stabil unsere Schätzungen durchzieht, ist die des numerischen Primings. Sobald wir über einen numerischen Anker in Kenntnis gesetzt werden, ist diese Zahl – unabhängig von ihrer Relevanz – für uns der heilige Gral. Unsere Wahrnehmung und Gewichtung von Zahlen ist in unserem Alltag so stark verankert, dass nahezu jede Entscheidung von diesen beeinflusst wird. Um die urteilsverzerrende Wirkung des Ankereffekts zu umgehen, reicht es in den meisten Fällen schon aus, sich diesen Prozess ins Gewissen zu rufen und dementsprechend unseren Bezugsrahmen zu überdenken.
Orr, D., & Guthrie, C. (2005). Anchoring, information, expertise, and negotiation: New insights from meta-analysis. Ohio St. J. on Disp. Resol., 21, 597.
Tversky, A., & Kahneman, D. (1974). Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. science, 185(4157), 1124-1131.