Vollkommen unabhängig von unserem kulturell entwickelten Verständnis für Mengen und Zahlen, gibt es ein natürliches Vermögen, Mengen einzuschätzen, das wir auch mit anderen höheren Tieren teilen. Besonders im unteren einstelligen Bereich, sind Tiere in der Lage, Veränderungen einer Menge zu erkennen.
Tatsächlich gibt es so etwas wie einen natürlichen Sinn für Mengen-den meisten Menschen ist es möglich, auf einen Blick Mengen von bis zu vier oder fünf Elementen zu erfassen. Und zwar ohne zu zählen! Die Wahrnehmungsforschung bezeichnet dies als „Simultanerfassung“ (englisch: Subitizing) [Dahaene 2011]. Offenbar teilen wir diese Fähigkeit mit höheren Tieren-so lassen sich zumindest Studien mit Menschenaffen und Ratten interpretieren. Auch Rabenvögeln wird diese Fähigkeit zugeschrieben [Ifrah 1991]. Werden uns mehr als fünf Elemente präsentiert, nimmt die Zuverlässigkeit dieses Zahlengefühls schnell ab. [Dahaene 2011]
Der natürliche Sinn für Mengen umfasst nicht nur die Anzahl; Es fällt uns in dieser Größenordnung noch leicht, zu entdecken, wenn eines der Elemente gegen ein anderes ausgetauscht wird. Die Fehlerrate steigt jedoch sehr schnell an, wenn es sich um Mengen mit sechs oder mehr Objekten handelt. Da wir diese Fähigkeit offenbar unabhängig von Kultur und Sprache teilen, haben wir bei diesem Phänomen so etwas wie den Kern unseres mathematischen Verständnisses vorliegen. Unser Gehirn hält Strukturen bereit, mit denen wir viele einfache mathematische Operationen („2+3“) als selbstverständlich empfinden können. Kindern fällt es in der Schule oft schwer ein mathematisches Verständnis aufzubauen, dass über diese Schwelle hinausgeht. Diese Kinder können zum Beispiel „2+3“ recht mühelos rechnen, jedoch nicht „14 + 20“. Inzwischen hat sich dafür der Begriff „Dyskalkulie“ eingebürgert. Vielleicht neigen wir dazu, die Zwangsläufigkeit und Natürlichkeit, mit der wir solche einfachen Zahlenoperationen erleben, auf komplexe Operationen zu übertragen. Das mag eine Quelle dafür sein, dass wir wie selbstverständlich auch mit höheren Zahlen umgehen können, obwohl dieser Umgang alles andere als natürlich und eben selbstverständlich ist.
Mengen schätzen
Natürlich können wir auch den Umfang größerer Mengen abschätzen. In der Regel schon allein dadurch, dass größere Mengen in der Realität eine größere Fläche oder ein größeres Volumen einnehmen. Zum Beispiel, wenn wir abschätzen, wie viele Blätter Papiere ein Stapel umfasst. Allerdings: Auch hier ist die Präzision sehr mager, es sei denn, wir können Stapel direkt miteinander vergleichen, wie wir es etwa tun, wenn wir beim Memory-Spiel ohne zu zählen, die Stapel der ergatterten Dubletten nebeneinender legen und sofort und sicher sehen, welcher Stapel der Größte ist, ganz ohne zu wissen, um wie viele Karten es sich handelt! Und es wird uns klar, dass ein großer Vorteil der Zahl gerade darin liegt, präzise auch dann Mengen mit einander vergleichen zu können, wenn diese nicht zur gleichen Zeit im gleichen Raum verfügbar sind! Wenn wir von einem natürlichen Sinn von Mengen sprechen, werden Menschen immer dazu neigen, die optische Erfassung von Mengen in den Vordergrund zu stellen. Vieles spricht aber dafür, dass zum Beispiel Füchse oder Hunde mit dem Geruchssinn sehr viel besser Mengen unterscheiden können, etwa wenn es darum geht, festzustellen, ob die Anzahl der Jungen vollständig im Bau ist.
Quellen
[Ifrah 1991] Ifrah, Georges: Universalgeschichte der Zahlen, Campus-Verlag 1991, Frankfurt am Main / New York, Sonderausgabe, 600 Seiten, ISBN 3880599564 [Dahaene 2011] Dehaene, Stanislas: The Number Sense: How the Mind Creates Mathematics, Revised and Updated Edition, Oxford University Press, USA 2011, New York, Revised, Update., 352 Seiten, ISBN 0199753873